Warum COVID-19 mehr als nur eine Atemwegserkrankung ist
Die Corona-Pandemie hat weltweit Millionen Menschen betroffen – körperlich, psychisch und sozial. Doch auch nach überstandener Infektion leiden viele Betroffene an langfristigen Folgen. Besonders häufig sind kognitive Beschwerden wie Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit oder mentale Erschöpfung – Symptome, die viele unter dem Begriff „Brain Fog“ zusammenfassen. Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass COVID-19 tiefgreifende Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem haben kann – bis hin zur beschleunigten Alterung des Gehirns.
Eine aktuelle Übersichtsarbeit mit dem Titel „Melatonin: a ferroptosis inhibitor with potential therapeutic efficacy for the post-COVID-19 trajectory of accelerated brain aging and neurodegeneration“ (PMC11031980, 2024) zeigt nun einen spannenden neuen therapeutischen Ansatz: Melatonin, bekannt als Schlafhormon, könnte das Gehirn vor genau diesen Folgen schützen.
Was ist Melatonin?
Melatonin ist ein körpereigenes Hormon, das hauptsächlich in der Zirbeldrüse des Gehirns produziert wird. Es reguliert unseren Tag-Nacht-Rhythmus und signalisiert dem Körper, wann es Zeit ist zu schlafen. Doch Melatonin kann weit mehr: Es besitzt starke antioxidative Eigenschaften, schützt Zellen vor Stress und beeinflusst Entzündungsprozesse im Körper.
Diese Eigenschaften machen es zu einem interessanten Kandidaten in der Forschung rund um neurologische Erkrankungen – und nun auch im Kontext von Post-COVID-Neurodegeneration.
Wie COVID-19 das Gehirn angreift
Während viele zunächst dachten, COVID-19 sei eine reine Lungenerkrankung, wissen wir heute: Das Virus kann nahezu alle Organsysteme betreffen – auch das Gehirn. Neurologische Langzeitfolgen sind keine Seltenheit. Zu den beobachteten Veränderungen zählen:
- Gedächtnisstörungen
- Konzentrationsprobleme
- Stimmungsschwankungen
- Schlafstörungen
- Erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson
Ein zentraler Verdacht der Wissenschaft: SARS-CoV-2 fördert Prozesse, die normalerweise im Alter auftreten – nur schneller und intensiver. Insbesondere ein biologischer Mechanismus steht im Fokus: Ferroptose.
Was ist Ferroptose – und warum ist sie so gefährlich?
Ferroptose ist eine besondere Form des programmierten Zelltods, die durch Eisenabhängigkeit und oxidativen Stressausgelöst wird. Sie unterscheidet sich von anderen bekannten Formen des Zelltods wie Apoptose oder Nekrose.
Bei der Ferroptose kommt es zu einer Überladung der Zellen mit Eisen. Dieses Eisen erzeugt sogenannte reaktive Sauerstoffspezies (ROS) – aggressive Moleküle, die Zellmembranen zerstören und neuronale Strukturen schädigen. Besonders betroffen sind empfindliche Gehirnzellen, die nicht oder nur schwer regenerierbar sind.
Die Übersichtsarbeit beschreibt Ferroptose als zentralen Mechanismus hinter der beschleunigten Hirnalterung und den neurologischen Langzeitfolgen bei COVID-19-Überlebenden. Das macht sie zu einem vielversprechenden Ziel für therapeutische Ansätze.
Melatonin als natürlicher Gegenspieler der Ferroptose
Hier kommt Melatonin ins Spiel. Es wirkt nicht nur schlaffördernd, sondern hat auch zellschützende, entzündungshemmende und antioxidative Effekte. Laut der Studie könnte Melatonin die Ferroptose auf mehreren Ebenen hemmen:
- Reduktion von Eisenakkumulation: Melatonin reguliert den Eisenstoffwechsel und verhindert eine toxische Überladung der Zellen.
- Neutralisation freier Radikale: Als starkes Antioxidans fängt Melatonin reaktive Sauerstoffspezies ab, bevor sie Zellschäden anrichten können.
- Stärkung der zellulären Schutzsysteme: Melatonin aktiviert körpereigene Schutzmechanismen wie das Glutathion-System, das oxidativen Stress abpuffert.
- Modulation von Entzündungsprozessen: Chronische Entzündungen sind ein weiterer Risikofaktor für Hirnalterung. Melatonin wirkt hier regulierend.
Diese Kombination macht Melatonin zu einem potenziell neuroprotektiven Wirkstoff, der dem durch COVID-19 beschleunigten Alterungsprozess im Gehirn entgegenwirken könnte.
Klinische Relevanz: Wer könnte von Melatonin profitieren?
Die Forscherinnen und Forscher betonen, dass besonders folgende Gruppen von einer begleitenden Melatonin-Therapie profitieren könnten:
- COVID-19-Überlebende mit kognitiven Langzeitfolgen
- Ältere Menschen, bei denen die natürliche Melatoninproduktion bereits vermindert ist
- Personen mit neurologischen Vorerkrankungen
- Menschen mit oxidativem Stress, z. B. durch chronische Erkrankungen oder Umwelteinflüsse
Dabei ist Melatonin vergleichsweise gut verträglich und in vielen Ländern rezeptfrei erhältlich – allerdings sollte eine Einnahme stets ärztlich begleitet werden, vor allem bei langfristiger Anwendung.
Melatonin und Schlaf – ein unterschätzter Zusammenhang
Ein weiterer interessanter Aspekt: Guter Schlaf ist entscheidend für die Regeneration des Gehirns. Während des Tiefschlafs werden Abfallprodukte aus dem Gehirn abtransportiert – ein Prozess, der durch chronischen Stress oder Schlafstörungen beeinträchtigt werden kann.
COVID-19 und Long COVID gehen oft mit Schlaflosigkeit oder gestörtem Schlaf einher. Durch die Einnahme von Melatonin könnte nicht nur die Schlafqualität verbessert werden, sondern indirekt auch die Gehirnreinigung über das glymphatische System gefördert werden – ein zusätzlicher neuroprotektiver Effekt.
Warum gerade jetzt mehr Forschung nötig ist
Die bisherige Datenlage ist vielversprechend, doch wie die Autoren betonen: Es braucht mehr klinische Studien, um die Wirkung von Melatonin gezielt bei Long COVID und postinfektiöser Hirnalterung zu untersuchen. Fragen, die noch geklärt werden müssen, sind unter anderem:
- Welche Dosierung ist optimal?
- Wann ist der beste Zeitpunkt für die Einnahme?
- Welche Patientengruppen profitieren am stärksten?
- Wie lange sollte Melatonin angewendet werden?
Erste klinische Studien sind in Planung oder bereits angelaufen. Bis dahin bietet die wissenschaftliche Übersichtsarbeit jedoch eine wertvolle Orientierung für zukünftige Forschungsansätze – und Hoffnung für viele Betroffene.
Fazit: Melatonin als Hoffnungsträger in der Post-COVID-Medizin?
Die aktuelle Forschung zeigt eindrucksvoll: Melatonin könnte weit mehr sein als ein natürliches Schlafmittel. Es hat das Potenzial, das Gehirn vor den Langzeitfolgen einer COVID-19-Infektion zu schützen, insbesondere vor beschleunigter Alterung und Neurodegeneration durch Ferroptose.
Dank seiner antioxidativen und neuroprotektiven Eigenschaften rückt Melatonin zunehmend ins Zentrum der medizinischen Forschung. Für Betroffene von Long COVID, Menschen mit kognitiven Problemen oder schlicht alle, die ihr Gehirn gesund erhalten wollen, könnte Melatonin ein sinnvoller Baustein in der Prävention und Therapie sein.
Wie immer gilt: Die Einnahme sollte individuell abgestimmt und idealerweise mit einer Ärztin oder einem Arzt abgesprochen werden. Die Studienlage entwickelt sich weiter – und mit ihr die Hoffnung auf neue therapeutische Wege in der Post-COVID-Zeit.
Quellen:
Singh, R. B., et al. (2024). Melatonin: a ferroptosis inhibitor with potential therapeutic efficacy for the post-COVID-19 trajectory of accelerated brain aging and neurodegeneration. Frontiers in Aging Neuroscience